gegenüber


Wir fahren in dieselbe Richtung. Wir haben kein gemeinsames Ziel. Jeden Tag ein anderes Gegenüber. Der Aufbau der Abteile ist noch auf die Kutschen zurückzuführen, wo gemeinsame Reisen Gespräche in Gang brachten. Wir reisen nicht mehr. Wir pendeln. Wir wechseln den Ort.

 

«Vor der Ausbildung der Omnimusse, Eisenbahnen und Strassenbahnen im 19. Jahrhundert waren die Menschen überhaupt nicht in der Lage, sich minuten- bis stundenlang gegenseitig anblicken zu können oder zu müssen, ohne miteinander zu sprechen.»
Georg Simmel

 

Wir haben in den Pendlerzügen die Konstellation von Gemeinschaft ohne das Erleben von Gemeinschaft. Jeder versucht, aus der Wahrnehmung des Gegenübers zu fallen. Das Gegenüber ist uns nicht fremd, es hat nichts Fremdes an sich, es ist eine Körpervariante. Diese wünscht man sich laut- und geruchslos.

Der Nächste wurde entfernt. Der Blick nimmt den anderen als etwas wahr, das Raum einnimmt. Es werden keine Blicke ausgetauscht, der eigene Blick fällt in das Buch, in die Zeitung oder auf den Bildschirm.

Die Geräusche menschlicher Begegnungen sind unterdrückt. Gespräche werden in der Regel mit Personen ausserhalb des Raumes geführt. Während der Fahrt gibt es für Gespräche selten einen Anhaltspunkt.

Am 9. September 2014 sang eine Frau im Zug ein Lied.

“Der Unbekannte, der Fremde, das ist für uns schon nicht mehr der, der von fern kommt, sondern der, der gleich nebenan wohnt.” Paul Virilio, Fahren, fahren, fahren…