Linien


Die Linie, die Gerade ist in dem Raum rund um die Eisenbahn die dominierende geometrische Form. Es gehört zu den Grunderfahrungen des Pendelns, dass nicht nur die Gleise selbst und viele Elemente in den Waggons aus Linien bestehen, sondern dass sich die Linie invasiv auf die Umgebung ausbreitet.

Die Gerade ist Träger und gleichzeitig auch Symbol für die Effizienz: Kein Umweg wird zugelassen und keine Anpassung an die Umgebung erlaubt, sondern es geht schnurgerade von Punkt zu Punkt. Landschaft und Architektur sind längst von der Gerade okkupiert worden.

Ein grosser Vorteil der Gerade fällt auf: sie ist leicht herstellbar und vor allem leicht kopierbar. Insofern ist sie die geometrische Form, die Industralisierung und Digitalisierung gleichermassen bedienen kann. Die Linie hat ihren Erfolg der einfachen Reproduzierbarkeit zu verdanken, sie tritt selten alleine auf. Die Wiederholung scheint eine Wesenseigenschaft der Geraden zu sein.

Die Gerade ist Voraussetzung für Geschwindigkeit, umgekehrt erzeugt Geschwindigkeit Linien und Linearität. Victor Hugo in eienm Brief am 22. August 1837:

“Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken oder vielmehr rote und weiße Streifen; es gibt keinen Punkt mehr, alles wird Streifen; die Getreidefelder werden zu langen gelben Strähnen,; die Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe; die Städte, die Kirchtürme und die Bäume führen einen Tanz auf und vermischen sich auf eine verrückte Weise mit dem Horizont.”

Zu Zeiten Hugos bewegten sich die Züge noch mit einer Reisegeschwindigkeit von 35 km/h. An die Auflösung der unmittelbaren Umgebung haben wir uns längst gewöhnt.

Die Ausrichtung der Landschaft auf Geschwindigkeit und Beschleunigung korrespondiert mit der Erfahrung des Angestellten, der sich auf Linie gebracht sieht. Wie die Waggon auf der Eisenbahn ist die Varianz der Handlungsmöglichkeiten reduziert und die Handlung auf ein Ziel ausgerichtet, bei dem eine Wahrnehmung der Umgebung eher hinderlich erscheint.

Die Gerade ist die Umsetzung des binären Denkens, die Gerade kennt keinen Umweg, keine Pause, keinen Schnörkel, nichts Verspieltes. Die Gerade hat das Ornament gefressen. Das Ende der Gerade ist der Unfall. Die Gerade kennt keinen Verfall, kein sich langsames Auflösen. Die Gerade, die nicht mehr gerade ist, ist nicht mehr. Ein Ornament, eine Kurve ist für das Altern und den Verfall deutlich besser gerüstet.

Früher wurden Häuser gebaut, die sich verändern konnten. Sie wuchsen, sie senkten sich, veränderten die Farbe und ihre Struktur. Heute bauen wir Häuser, die aus Linien bestehen, die sich nicht verändern dürfen, die abgerissen werden müssen, wenn die Linien nicht mehr halten.

Linien sind Ausdruck für die Beherrschbarkeit der Welt. Wo ich eine Linie ziehen kann, steht mir nichts mehr im Wege. Uns steht nichts mehr im Wege. Wir stellen uns nichts mehr in den Weg.

Jedes Zeitalter hat seine dominanten geometrischen Formen, die Landschaft und Architektur prägen. Die Gerade ist die Form des 20. und 21. Jahrhunderts. Seit bald hundert Jahren geht es darum, alles auf Linie zu bringen.